Reisen vom Polarkreis zum Äquator (II)
Riesige Borkenkäferinvasion im südlichen Alaska
Moschusochse Waldbrandgebiet Elch mit Jungem Emerald Lake Prinz William Sound Seeotter Borkenkäferschäden
Der Seeotter schaut mich neugierig an. Zusammen mit einem Artgenossen liegt
er auf dem Rücken im kalten Wasser der Kachemakbucht am südlichen Ende
der Kenai-Halbinsel in Alaska. In der Schweiz sind die Fischotter seit
Jahrzehnten
verschwunden. Der Mensch hat seine Lebensräume, die Flussufer, verbarrikadiert
und die Tiere mit Spuren von PCB im Wasser vermutlich chemisch kastriert.
Hier in den unendlichen Weiten von Alaska ist die Besiedlungsdichte des
Homo sapiens fast gleich Null. Und trotzdem hatte das Otterpaar vor mir
Glück, dass seine Vorfahren jene Katastrophe überlebten, welche das Leben
in einem Meeresstreifen von etwa 800 km fast ausgelöscht hatte.
Es geschah am 24. März 1989. Ein betrunkener Kapitän steuerte den Supertanker
„Exxon Valdez" im bestbekannten Prinz William Sound auf ein Riff. Der geborstene
Riese verlor 108 Millionen Gallonen Rohöl. Physikstudenten in Homer haben
berechnet, dass man den Wasserhahn in der Küche 9,7 Jahre lang voll laufen
lassen könnte, bis diese Menge den Hahn passiert hätte. 1’011 Seeotter
wurden tot gefunden, rund eine Million Seevögel starb qualvoll. Die
eingeleiteten
Sofortmassnahmen hatten zum Teil noch schlimmere Auswirkungen als der Unfall
selbst. Das zu „Testzwecken" angezündete Oel machte die Einheimischen im
Dorf Tatitlek krank. Die Klippen wurden mit heissem Wasser abgespritzt.
Dabei gingen noch die restlichen Lebewesen der Gezeitenzone zugrunde. Da
die Ölfirma viel Geld (und Oel) als Entschädigung bezahlte, gab es nach
dem Unfall auch Gewinnler. Die Regierung bewilligte zudem 125 Mio. Dollar
als Sofortmassnahme und 900 Mio. Dollar über 10 Jahre als Hilfe für die
Region. Doch noch heute sind Reste von Öl im Boden und unter Steinen zu
finden. Der Fischereibiologe Ron Heintz bezeichnet diese Reste als eine
Art „Landmine", die bei Sturm jederzeit abgehen könne.
"Alyeska" heisst in der Sprache der Eingeborenen „Weites Land". Nur ein
mageres Dutzend asphaltierter Routen führt durch Zentralalaska und durch
den Süden. Der weitaus grösste Teil der Wildnis bleibt mit dem Auto
unerreichbar.
Doch auf diesen Strassen herrscht in den Sommermonaten ein Verkehr wie auf
unseren Hauptstrassen. Viele Gäste sind Fischer. Allein im Kenai-River
stellen sich in vier Sommermonaten nach offiziellen Angaben jährlich rund
100’000 Fischer ein. Da stehen sie an den wenigen zugänglichen Orten dicht
nebeneinander. Viele fischen von einem Boot aus, weil lange Uferstrecken
im Privatbesitz oder unzugänglich sind. Sie warten fast alle auf den Lachs,
welcher sich dieses Jahr offenbar verspätet hat. Am Abend werden die grössten
und schönsten Exemplare in einer Art Wettstreit verglichen und prämiert.
Auf der Halbinsel Kenai hat sich die Tierwelt in neuerer Zeit spürbar verändert.
Der Wolf wurde bereits im ersten Viertel des 20. Jh. ausgerottet. Der Kojote,
welcher daraufhin seinen Platz einnahm, verdrängte seinerseits den Rotfuchs
in die höheren Bergregionen. Die Karibus, nordamerikanische Rentierverwadte,
wurden hier 1930 zum Verschwinden gebracht. Die etwa 300’000 Tiere umfassende
Karibuherde zwischen dem Kanadischen Yukon und Alaska wurde bis in die 70-er
Jahre auf etwa 6’000 Tiere zusammengeschossen. Seit umfassende Schutz- und
Wiederansiedlungsprogramme angelaufen sind, beginnen sich die Herden langsam
wieder zu vergrössern. Auch der Moschusochse in Alaska, welcher sich zum
Schutz gegen Wölfe in kreisrunden Formationen aufstellt, wurde gerade deswegen
leichte Beute von Jägern. In der Moschusochsenfarm von Palmer werden nun
aus Grönland importierte Moschusochsen wieder gezüchtet. Dabei handelt
es sich weder um Rinder noch um potenzsteigernde Moschuslieferanten. Die
Tiere sind den Ziegen und Schafen verwandt. Ihre waagrechten Pupillen dienen
als Blendenschutz, ihre Nasengänge sind stark durchblutet, um die kalte
Luft erwärmen zu können. Moschusochsen waren schon vor 600’000 Jahren
hier, damals zusammen mit den Mammuts. Da Beriniga, die Zone zwischen Sibirien
und Nordkanada, nicht vereist war, haben die Tiere in den trockenen Grassteppen
hier ausreichend Nahrung gefunden. Ihre Unterwolle, Quviut genannt, ist
feiner als diejenige der Kaschmir-Ziege und gibt 8 mal wärmer als Schafwolle.
Ein Moschusochse liefert etwa 2 kg Wolle pro Jahr. Da die brünstigen Bullen
in ihrem Kämpfen derart stark aufeinanderprallen, dass sie sich
Gehirnverletzungen
zufügen, werden ihnen hier in dieser Zeit die Hornpartien mit Pneus umwickelt,
was ihre Lebenserwartung um Jahre erhöhe.
Auf unserer Fahrt durch das südliche Alaska fahren wir auch durch geisterhafte
Nadelwälder. Fast alle älteren Bäume sind braun oder kahl, tot, unheimlich.
Im Unterwuchs schiesst umso stärker das belichtete Kraut. Das Pratt-Museum
von Homer gibt Auskunft über das Phänomen. Seit 1989 vermehrt sich der
Borkenkäfer „Dendroctonus rufinipennis" (Spruce Bark Beetle) mit rasender
Geschwindigkeit. Vermutlich hat das wärmere Wetter der letzten Jahre zu
dieser grossen Epidemie geführt, welche bis heute mehr Bäume befallen
hat als je zuvor. Dem Käfer wird mit Pestizid und Abholzen auf den Leib
gerückt, doch der Erfolg ist sehr bescheiden. In der Region von Homer wird
der Borkenkäferschaden bereits als grösser bezeichnet als derjenige der
Ölkatastrophe und des Erdbebens vom 27. März 1964 zusammen, welches mit
9,2 auf der Richterskala das grösste je gemessene Beben Nordamerikas war.
Die Natur kennt keinen Idealzustand. Ihr Gleichgewicht ist fliessend, dynamisch,
oft unergründlich. Nach dem grossen Erdbeben ist Salzwasser in die Bodenzonen
der Uferstreifen eingedrungen und hat hier Bäume zum Absterben gebracht.
Wegen des Permafrostet fallen auch auf natürliche Art Bäume einfach um. Die
Einheimischen nennen solche Waldabschnitte „the drunken forest", den betrunkenen
Wald. Der Kapitän war also in guter Gesellschaft.