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Japan:

Im Auge des Taifun

Während der Hochzeit unseres Sohnes mit seiner japanischen Lebenspartnerin gerieten wir in einen der heftigsten Taifune der letzten Jahrzehnte


(Bilder zum Anklicken!)


Zerrissenes Haus in Usumi  Umgestürzte und zerbeulte Autos  Goldener Kinkakuij-Tempel  Japanischer Garten      Der Kyoto-Tower          Land der aufgehenden Sonne

 

Hätte ich wirklich einen Taifun aus nächster Nähe erleben wollen, hätte ich kaum die japanische Ortschaft Usami, einen Vorort von Ito auf der Halbinsel Izu ausgewählt. Zu leicht erscheint hier die Bauweise der Häuschen jenes Ortes am Pazifik, wo unsere Schwiegertochter aufgewachsen ist. Bereits mein erster Dorfrundgang lässt mich überlegen, weshalb dies so sein könnte. Es gibt hier immer wieder Erdbeben, also sollten die Gebäude möglichst elastisch sein. Bei starken Windböen sind die Häuser weniger exponiert, wenn sie dermassen nahe beieinander stehen. Doch der wahre Grund für die sehr dichte Bauweise dürfte wohl eher die Raumknappheit sein, welche auf Schritt und Tritt sichtbar wird und einen wahren Reichtum an Platz sparenden Erfindungen hervorbringt.

Das Familienfest vom Samstag den 9. Oktober ist auf 11:00 Uhr angesagt. Der Regen trübt die Kulisse des schmucken Kawana-Hotelgebäudes mit seinem riesigen Park an der Meeresküste. Bereits seit drei Tagen wurden in den Medien Taifunwarnungen ausgestrahlt. Um 15:30 Uhr soll der Sturm hier in Ito eintreffen. Nach dem exotischen Mittagessen wird die Gesellschaft unruhig. Man will möglichst nach Hause, bevor die Verkehrswege unpassierbar werden. Dass dieser Taifun dann dermassen heftig zuschlagen wird, ist auch für die Einheimischen eine böse Überraschung. In den letzten Jahren haben die Wirbelstürme an Heftigkeit ständig zugenommen.

Schon auf der Fahrt zum Hotel stelle ich mir vor, wie eine Windhose aus der Nähe wohl aussehen würde und ob ich davon sogar eine Foto machen könne. Ich erinnere mich an den Kinofilm „Twister“, worin die Hose eine Spur der Verwüstung hinterlässt. Auch die trostlosen Fernsehbilder über die Sommerhurrikane auf den Karibischen Inseln und in Florida sind mir noch sehr präsent. Die Wahrscheinlichkeit, selbst je in einen solchen Sturm zu geraten, schätze ich auf die Chance des Findens der berühmten Stecknadel im Heuhaufen. Doch es kommt alles ziemlich anders.

Kaum haben wir das Elternhaus wieder erreicht, legen die Regengüsse nochmals an Heftigkeit zu. Im Fernsehen wird der Vormarsch des Sturmes mitverfolgt. Das Auge bewegt sich gerade auf uns zu. Neueste Daten: Luftdruck auf Meereshöhe 934 hPa, Zuggeschwindigkeit des Luftwirbels 50 km/h, Windgeschwindigkeiten um 200 km/h, in Wirbeln nach allen Seiten wechselnd. Soweit es geht, werden die Fenster mit Läden verschlossen. Da wir am Abend mit dem Zug nach Tokio fahren wollen, ist unser Gepäck bereits grösstenteils gepackt. Da kracht es. Im oberen Stockwerk schauen wir durch die dicken Scheiben. Ein erster Ziegel ist aufs Auto runtergefallen. In kurzer Zeit ist der Wassergraben entlang der Strasse gefüllt. Die Strasse selbst verwandelt sich in einen regelrechten Fluss. Ein Harass schwimmt am Haus vorbei. Das Regenwasser peitscht einmal von rechts, dann von links. Auf der Nordseite klirrt eine Scheibe. Mit Plastik, Klebband und Spanplatten wird behelfsmässig geflickt. Da beginnt das Dach zu tropfen! Sammelbehälter werden hin und her geschoben. Nach mehrmaligem Flackern fällt die Elektrizität endgültig aus. Grosse Kerzen und Taschenlampen sind rasch zur Stelle. Rundum knackt es. Kommt das vom Nachbarhaus oder von unserem Dachstock? Es tönt, als ob ein grosses Salzstängeli portionenweise zerkleinert würde. Im Entrée wird es nass. Wir stellen die Schuhe eine Stufe höher. Was ist schlauer, raus in den Schlamm oder im Haus das vermeintlich sicherste Zimmer aufzusuchen? Welche Taschen sind die wichtigsten, wo sind die Ausweise und die Flugbillette? Nur keine Panik! Die jüngere Schwester unserer Schwiegertochter wapt sich mit dem Handy direkt ins Internet. Es sei hier der stärkste Taifun seit 50 Jahren. Ob das stimmt, kann ich nicht abschätzen. Doch bei uns im Urnerland ist ein Föhnsturm wenigstens trocken! Nach rund zwei Stunden wird es plötzlich still. Die Schwiegertochter vermutet, dass wir jetzt im eigentlichen Auge des Taifun drin seien. Das darf doch nicht wahr sein! Wir wagen einen Blick aus dem Fenster. Am Himmel erkennt man blaue Flecken, umrahmt von hellrotem Abendschein. Die Aufhellungen werden grossflächiger. Der Sturm ist vorbei.

Draussen ist es vorerst gespenstisch ruhig. Keine Bahn, kein Auto, ein erstes Heulen der Ambulanz. Bald informiert ein Lautsprecherwagen über den völligen Zusammenbruch der Stromversorgung. Sie sollte erst nach 5 Tagen wieder funktionieren. Drei Verwandte probieren, mit dem Auto nach Hause zu fahren. Nach einer Stunde sind sie wieder da. Die Strassen sind unpassierbar. Mit dem Gaskocher wird vorerst einmal Tee gekocht. Dann spielen wir bei Kerzenlicht Karten. Der Fussboden in der Stube wird zum Schlafplatz der Verwandtschaft.

Das gesamte Ausmass des Unwetters wird erst am folgenden Tag ersichtlich. Dächer sind abgedeckt, es fehlen Aussenisolationen oder halbe Häuser. Alte Kirschen- und Mandarinenbäume, ja ganze Obsthaine liegen entwurzelt herum. Viele Strommasten sind zerbrochen, zum Teil sind die Kabel regelrecht abisoliert. In einer Stromleitung hängt ein Stuhl. Zerbrochenes Material wird allenthalben aus den Häusern getragen. Zwischen umgeworfenen Autos wird geschaufelt, gewischt und abgespritzt. Ein Mann hat einen Gazeverband über der Nase, eine Art SARS-Schutz. Er erzählt, dass er sich an einer berstenden Fensterscheibe das Gesicht zerschnitten habe. Die Medien melden 7 Todesopfer. Nur wenige hundert Meter von der Windschneise entfernt hat der Sturm praktisch keine Schäden angerichtet. Wir waren im Auge des Taifun!

Ein paar Tage später besuchen wir die ehemalige japanische Kaiserstadt Kyoto. Hier wurden 1997 die Klimaschutzprotokolle zur Reduktion der Treibhausgase unterzeichnet, leider bisher mit sehr mässigem Erfolg. Das lieblich-warme Licht der Herbstsonne verzaubert den goldenen Kinkakuij-Tempel, die japanischen Gärten entführen uns in eine eigentliche asiatische Märchenwelt.

Am 19. Oktober 2004, drei Tage nach unserer Rückkehr in die Schweiz, fegt ein noch heftigerer Taifun über Kyoto hinweg. Mindestens 17 Menschen finden darin den Tod.