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Reisen vom Polarkreis zum Äquator (X)

Die wiederkäuenden Zigeunerhühner von Amazonien

   Im Regenwald          Anakonda    Abend am Cuyabenofluss  Zigeunerhühner  Blattschneiderameisen  Affe und Hund           Nasser Affe        

Einige Kilometer nördlich der ecuadorianischen Hauptstadt Quito, in „Mitad del Mundo" (Mitte der Welt), ist die Äquatorlinie auf dem Boden markiert. Wir haben unsere selbst gesetzte Ziellinie erreicht! Seit unserem Start am Polarkreis sind fast sechs Monate vergangen. Doch bevor wir in die winterliche Schweiz zurückfliegen, geht es noch in den tropischen Regenwald Amazoniens. Das Urwaldgebiet von Cuyabeno (Ecuador) liegt nahe der Grenze zu Kolumbien und Peru. Von der Erdölstadt Lago Agrio aus holpern wir während dreier Stunden mit einem Geländefahrzeug bis zum Cuyabenofluss. Hier steigen wir auf einen motorisierten Einbaum der Eingeborenen um. Das braune Wasser des Flusses wird immer dunkler, bis es allmählich schwarz erscheint. Gerbstoffe und Pflanzensäfte verursachen diese dunkle Färbung. Im glatten Wasser der Lagunen spiegeln sich Mangroven, Akazien und Bromelien. Ein Zweiklauen Faultier (Choloepus didactylus) hängt fast regungslos im Geäst. Affen turnen in den Lianen. Grüne und gelbblaue Papageien sowie Weissbrust-Tukane (Ramphastos tucanus) mit gewaltigen Hornschnäbeln kreisen über uns. Von den Ästen hängen flaschenförmig die kunstvollen Nester der Gelbbürzel-Kassiken (Cacicus cela).

Im Cuyabeno Nationalpark sind wir in Holzhütten untergebracht, welche mit Palmblättern gedeckt sind. Die Betten sind mit Moskitonetzen geschützt. Kakerlaken, Spinnen und ein grosser Frosch finden den Weg in unsere Unterkunft trotzdem. Die Nächte sind ebenso faszinierend wie die Tage. Grillen, Zikaden und Vögel musizieren um die Wette. In den Morgenstunden erreichen die Konzerte ihr „Finale con brio". Die gekrönten Häupter der Zigeunerhühner erscheinen als Silhouetten in der Dämmerung. Das rund 60 cm grosse, braune Zigeunerhuhn oder Hoazin (Opisthocomus hoazin) führt ein geselliges Leben entlang den Wasserläufen im nordwestlichen Südamerika. Die Jungen schlüpfen fast nackt aus den Eiern und klettern derart ungeschickt auf den Ästen herum, dass sie oft ins Wasser fallen. Um wieder ins Nest zu klettern, nimmt der junge Hoazin nicht nur die Füsse, sondern auch die merkwürdigen Krallen am zweiten und dritten Finger zu Hilfe. Diese „Vierfüssigkeit" erinnert an den Urvogel Archaeopterix. Verschiedene Naturforscher glaubten deshalb an eine Verwandtschaft zwischen den beiden Arten, doch wird diese These heute eher wieder verneint. Die Vorliebe der Zigeunerhühner für harte Blätter und Früchte hat zu drei kropfartigen Erweiterungen der Speiseröhre geführt. Darin wird die Nahrung weiter aufgespalten und später wiedergekäut. Die stinkenden Gase, welche bei der Gärung entstehen, bewahren die Tiere vor den Geschossen der Jäger. Wegen den Verdauungssäcken fehlt ihnen auch ein beträchtlicher Teil des Brustbeins, was wiederum die Ansatzstelle der Flugmuskulatur schwächt. Zigeunerhühner sind deswegen schlechte Flieger.

Die Flora und Fauna, welche wir in den folgenden Tagen antreffen, könnte zur Erstellung eines Gruselkabinetts dienen. So finden wir den Killerbaum. Dieser Epiphyt macht zuerst Luftwurzeln, welche dann ihren Wirtsbaum umschlingen und ihn erwürgen, wenn die Wurzeln tief genug verankert sind. Die Pflanze produziert viele Früchte und ist deshalb sehr erfolgreich. Aus einer Liane der Gattung Strychnos wird das Pfeilgift Curare gewonnen. Am Ufer liegt eine (gottlob vollgefressen) Riesenschlange, welcher wir uns auf wenige Meter zu nähern wagen. Die Anakonda hat einen Durchmesser von etwa 40 cm und kann über 10 Meter lang werden. Unser Führer Pablo kitzelt sogar eine Vogelspinne unter einem vermodernden Blatt hervor. Die Majeta ist eine Pflanze, welche einer giftigen Ameisenart ihren Nektar liefert. Die kleinen Tiere verteidigen die Pflanze als Gegenleistung sehr aggressiv und heftig. Die Pflanze wird dann von Raupen weniger angegriffen. Tropische Blattschneiderameisen schneiden mit ihren scharfen Kiefern Blattstücke ab und können so einen ganzen Baum entlauben. Diese Stücke tragen sie wie grüne Fahnen in langen Prozessionen zum Nest. Dort werden die Blätter zu einem Brei zerkaut. Auf dem Substrat entwickeln sich Pilzfäden, welche die Blattzellulose aufspalten und sie dadurch verdaulich machen, welche aber auch der Ameisenbrut verfüttert werden. Bevor ein neuer Staat gegründet wird, nimmt die Königin eine kleine Menge des Pilzes in ihrer Backentasche auf den Hochzeitsflug mit. So profitiert symbiotisch auch der Pilz von der Lebensgemeinschaft.

Im Einbaum paddeln wir durch das Labyrinth der Wasserläufe. Wir treffen auf einen Flussdelfin (Sotalia fluviatilis). Ein Tapir (Tapir terrestris) steigt aus den Fluten des Hochwassers. Eigentlich wäre im Dezember Trockenzeit mit Niedrigwasserstand. Nach heftigen Schauern erscheint die Abendsonne besonders goldig. Sobald es nachtet, fliegen Tiere wie Schwalben ganz nahe über die Wasseroberfläche. Es sind fischende Fledermäuse. Sie registrieren mit ihrem Echolotsystem die Veränderungen der Wasseroberfläche, wenn Fische in der Nähe sind. Und dann ein besonderes Schauspiel: Ein Fledermausfalke (Falco rufigularis) schnappt sich eine Fledermaus samt Fisch!