Reisen vom Polarkreis zum Äquator (I)
Bei den Inuvialuits in Tuktoyaktuk
Iglukirche Inuvik Dempster Highway Der
betrunkene Wald Weidenröschen Ortstafel von
Tuk Permafrost-Seen Pingo = Permafrostberg
Wenn ich mir früher "Eskimos" vorgestellt habe, sah ich sie freundlich lächelnd, in Pelzschuhen und Karibumantel vor ihrem Iglu stehen, vielleicht mit einem Fisch in der einen und einer Rute in der anderen Hand. Nun bin ich zusammen mit meiner Frau tatsächlich im obersten Norden von Kanada, an der Beaufort Sea, in Tuktoyaktuk, weit nördlich des Polarkreises am 69 Breitengrad. Hinter uns liegt eine Fahrt über eine 740 Kilometer lange Schotterstrasse und anschliessend ein Flug von 35 Minuten ab Inuvik. Im Winter wäre die Strecke übers Eis mit dem Auto befahrbar, im Sommer verhindern die unzähligen Seen über dem Permafrost jegliches Weiterkommen auf dem Land. Maureen räuchert Hering, Belugawal und Karibu. Die Frau ist als Lehrerin aus Saskatchewan in "Tuk" hängengeblieben und hat einen einheimischen Inuvit vom Stamm der Inuvialuits geheiratet. In ihrer gemütlichen Stube erzählt sie uns die Geschichte des nordischen Volkes:
Die Inuvialuits sind Walfänger, Fischer und Jäger. Pro Familie wird ein
Wal gejagt, welcher den ganzen Winter über Fleisch liefert. Auch die Huskies
müssen gefüttert werden. Im Winter, welcher etwa 9 Monate dauert, wird
es nie stockdunkel. Der Schnee reflektiert das wenige Licht von Mond und
Nordlicht. Im Sommer kann es bis 30 Grad warm werden. Heute ist es allerdings
windig und kalt. Die Kinder lernen in einem geheizten "Hallenbad" schwimmen
und vergnügen sich bei schönem Wetter im Meer, bei Wassertemperaturen
von 13 – 15 Grad. Tuk hat rund 950 Einwohner und 4 Kirchen. Die grösste
ist die römisch-katholische, gefolgt von der anglikanischen. Als die Missionare
Ende des 19. Jahrhunderts nach Tuk kamen, lehrten sie die Inuits ihre
gesprochene Sprache schreiben. Heute stirbt diese Sprache aus. Die Jungen sprechen nur
noch Englisch, wie sie es eben in allen Medien sehen und hören. Tuk hat
einen eigenen Fernseh- und Radioempfänger via Satellit und kann so die Signale
der Aussenwelt empfangen. Im etwa 300 km südlicher gelegenen Inuvik wird
ein regionales Fernsehprogramm ausgestrahlt. Die Häuser werden auf Pfählen
in den Permafrost gerammt, damit beim Heizen nicht der Boden unter dem Wohnbau
wegschmilzt. Rund um die Ortschaft stehen Pingos, eigentümliche runde
Hügel aus Eis, welche von Vegetation bedeckt sind. Das Schmelzen und Gefrieren
von Süsswasser über dem Permafrost lässt diese Hügel pro Jahr etwa zwei
Zentimeter wachsen. Die höchsten Pingos sind über 50 m hoch. Wird die
Vegetationsdecke zerstört, kann der Pingo in sich zusammenbrechen und erscheint
dann wie ein Vulkankrater. Die veränderten Klimabedingungen machen den
Leuten Sorge. So haben die letzten Jahre die Karibu- und Schneeziegenherden
ganz andere Routen gewählt. Die Jagd wurde dadurch schwerer oder gar unmöglich.
Der Unterhalt des fast 800 km langen Dempster Highways von Dawson City nach
Inuvik kostet enorm viel Geld. Das Schotterbett ist über 20 m breit und
mehrere Meter hoch, damit die Erdbewegungen ausgeglichen werden können.
Eine Klimaerwärmung wird auf dieses Bauwerk verheerende Folgen haben. Wenigstens
haben sich die Walbestände wieder ziemlich erholt, seit ein internationales
Verbot besteht. Zuvor hatten Walfänger aus aller Welt mit ihrem Frevel den
Einheimischen ihre Lebensgrundlage zerstört.
Heute werden in Tuk 70 Prozent der Nahrungsmittel importiert. Das
Warenhaussortiment
im Supermarkt unterscheidet sich in Nichts von dem unsrigen. Im Büro von
Maureen läuft der PC, gespiesen durch das örtliche Kraftwerk. In der Nähe
wurden Erdgas und Öl gefunden. Der Boden gehört der einheimischen Bevölkerung
im Kollektiv. Auf dieser "Korporationsfläche" kann jeder Angehörige seine
Hütten und Häuser stellen wo er will. Diese Lösung ermöglicht das Nomadenleben
des Nordens. Es ist absehbar, dass der kulturelle Wandel neue Gegebenheiten
schaffen wird. Zwar ist die Kunstausstellung "Northern Art" in Inuvik etwas
Ähnliches wie bei uns die Veranstaltung „Alpentöne", eine Suche nach Identität
und Wandel, wo sich viele Inuits in ihrem gegenseitigen Kunsthandwerk und
in ihrer Musik verstärken. Doch zurück in Tuktoyaktuk oder Aklavik werden
es diese dunkelhäutigen Menschen schwer haben, ihrer nächsten Generation
erklären zu können, weshalb sie ihre eigenen Bräuche und Riten pflegen
sollen. Diese Identitätskrise lässt viele zur Flasche greifen. Doch die
meisten Leute sind stolz auf ihr Wissen und ihr Handwerk. Sie präsentieren
dies in offener Art den Fremden. Und sie verstehe es, ihre Lebensweise zu
dokumentieren und zu zeigen. So können sie nicht nur eine kleine touristische
Infrastruktur aufbauen, sondern auch die ferne „kultivierte Welt" auf ihre Probleme aufmerksam machen.